Konzept "Anonymisierter Krankenschein"
Nach wie vor haben Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland keinen ausreichenden Zugang zum Gesundheitssystem. Eine Lösung dieser prekären Situation scheint auf Bundesebene (1) derzeit nicht absehbar. Aus diesem Grund entwickelten sich verschiedene Modelle, die auf lokaler Ebene versuchen, der Unter- bzw. Nichtversorgung zu begegnen. In Hamburg gibt es in diesem Bereich nur unzureichende Hilfsstrukturen, die auf zivilgesellschaftlichem Engagement basieren. Im Folgenden wird ein Überblick über die derzeitige Situation gegeben und darauf aufbauend das Konzept des Anonymisierten Krankenscheins sowie die Operationalisierbarkeit für Hamburg vorgestellt.
Rechtlicher Hintergrund
1976 hat sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, die im UN Sozialpakt fest- geschriebenen Menschenrechte anzuerkennen. In Artikel 12 ist das Recht auf Gesundheit festgelegt: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf das für ihn und sie erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an".(3)
Dieses Recht wurde ausdrücklich unabhängig vom Aufenthaltsstatus formuliert und beinhaltet einen Anspruch auf diskriminierungsfreien Zugang zur gesellschaftlichen Infrastruktur der Gesundheitsversorgung. Die Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität kommt in ihrer Studie von 2007 zu einem von dieser Rechtslage erheblich abweichenden Ergebnis: „Die Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Papiere in Deutschland ist defizitär".(5)
Illegalisierte Menschen werden rechtlich dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) unterstellt und haben demnach Anspruch auf eine medizinische Minimalversorgung bei akuten Erkrankungen, Schmerzuständen und Schwangerschaften sowie auf Impfungen und Leistungen, die zur Aufrechterhaltung der Gesundheit unerlässlich sind (AsylbLG § 4 und § 6).(6)
Ansprechpartner und Kostenträger dieser Leistungen sind die Sozialämter, die als öffentliche Stellen gesetzlich zur Meldung an die Ausländerbehörden verpflichtet sind (§ 87 AufenthG). Diese seit 1993 bestehende Regelung führt zu einer faktischen Aufhebung des ohnehin unzureichenden Zugangs zu medizinischer Versorgung nach AsylbLG. Die Betroffenen sind bei einer Meldung an die Ausländerbehörden akut von Verfolgung und Abschiebung bedroht. Somit stellt ein Krankheitsfall Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus vor ein enormes Problem. Der Aufschub einer ärztlichen Behandlung führt in vielen Fällen zu Verschlimmerung und sogar zur Chronifizierung von Erkrankungen, die durch frühzeitige Maßnahmen hätten verhindert werden können. Aus unserer Vermittlungspraxis im Medibüro sind uns viele Fälle bekannt geworden, in denen auch „geduldeten" Menschen die medizinisch und rechtlich gebotene Behandlung verweigert wurde.
Unabhängig von der Meldepflichtproblematik widerspricht das AsylbLG dem Rechtsprinzip eines diskriminierungsfreien Zugangs zur Gesundheitsversorgung. Die reduzierten medizinischen Leistungen nach dem Sondergesetz sind wiederholt von der Bundesärztekammer kritisiert und als dem ärztlichen Gleichbehandlungsauftrag zuwiderlaufend abgelehnt worden.8 Wie die Debatte um negative Auswirkungen des AsylbLG im Sozialausschuss des Bundestags vom 04.05.2009 zeigt, ist die bestehende Rechtlage politisch umstritten. Auch von der EU-Kommission gibt es aktuell einen Entwurf zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von AsylbewerberInnen, welcher u.a. für alle Mitgliedstaaten fordert, die Leistungen nach AsylbLG den Sozialleistungen der eigenen Staatangehörigen anzugleichen. Insofern ist die Ersetzung des AsylbLG durch neue Rechtsgrundlagen langfristig unausweichlich, um das Recht auf Gesundheit nicht nur de jure, sondern auch de facto für alle in Deutschland lebenden Menschen zu gewährleisten.
Bestehende lokale Ansätze
Solange Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus durch die oben skizzierte Rechtslage (Meldepflicht, Minimalversorgung) von einem gleichberechtigten Zugang zum Gesundheitssystem ausgeschlossen werden, besteht auf lokaler Ebene dringender Handlungsbedarf. Das zivilgesellschaftliche Engagement in diesem Bereich (wie z.B. die Malteser Migranten Medizin und die Medibüros) kann die strukturelle medizinische Unterversorgung der Betroffenen nicht auffangen.
Auch bestehende staatlich bzw. teilstaatlich finanzierte Ansätze wie in Frankfurt (Internationale Humanitäre Sprechstunde) und München (Fondsmodell) können nicht als adäquate Übergangslösungen angesehen werden. Die Stadt Frankfurt hat eine „Internationale Humanitäre Sprechstunde" eingerichtet, die von Amtsärzten und Amtsärztinnen mit allgemeinmedizinischer Ausrichtung betreut wird. Das Angebot kann nach einer Bedürftigkeitsprüfung durch SozialarbeiterInnen von allen Menschen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus genutzt werden. Die Behandlung ist unentgeltlich, für Medikamente und Impfstoffe gibt es einen Etat. Obwohl mit dieser staatlichen Einrichtung anerkannt wird, dass in Frankfurt Menschen ohne Papiere und damit ohne Versicherungsschutz leben, weist das Projekt unserer Ansicht nach in die falsche Richtung. Es wird eine weitere Parallelstruktur aufgebaut, die nur eingeschränkt medizinische Versorgung sicherstellen kann (Allgemeinmedizin). Alle darüber hinausgehenden gesundheitlichen Probleme können nicht behandelt werden. Die Betroffenen werden durch dieses Modell nicht in die Regelversorgung integriert, sondern erneut marginalisiert.
Die Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität diskutiert in ihrem Bericht als Lösungsansatz neben dem Anonymisierten Krankenschein ein Fondsmodell. Letzteres kann, sollte es nicht durch eine rein staatliche Finanzierung abgesichert sein, kaum als adäquate Lösung angesehen werden, da das Recht auf Gesundheit weiterhin von der Spendenbereitschaft und damit von zivilgesellschaftlichem Engagement abhängig bleibt. Zudem wurde dieses Modell bisher nur in Zusammenhang mit der Nutzung bestehender Unterstützungsinitiativen diskutiert und fördert dadurch eher die Zementierung der unzureichenden Parallelstrukturen als ihre Abschaffung. Der Anonymisierte Krankenschein stellt hingegen eine Möglichkeit dar dem Rechtsanspruch von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus Geltung zu verschaffen, da auf diese Weise die Integration in die medizinische Regelversorgung erreicht werden kann.
Ziel
Ziel ist es, Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus ohne Gefährdung durch Datenweitergabe an die Ausländerbehörde, die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen orientiert an der Regelversorgung zu ermöglichen. Da die Leistungen nach AsylbLG nicht mit geltendem Recht eines diskriminierungsfreien Zugangs vereinbar sind, können sie nicht Grundlage des Anonymisierten Krankenscheins sein.
Verfahren
Vergabestellen Anlaufstelle zur Vergabe des Anonymisierten Krankenscheins sind Stellen des öffentlichen Gesundheitswesens unter ärztlicher Leitung wodurch die Verpflichtung zur Schweigepflicht gewährleistet ist. Für die Vergabe der Scheine sollte ein fester Raum innerhalb einer bestehenden Struktur, die im Umgang mit der Problematik erfahren ist, etabliert sowie zusätzliche personelle Kapazitäten geschaffen werden. Diese Kriterien werden durch das Familienplanungszentrum sowie die Beratungsstelle für sexuell übertragbare Krankheiten "CASA BLANCA" erfüllt. Darüber hinaus böten sich die Patientenberatungsstelle der Ärztekammer sowie die jeweiligen Gesundheitsämter der einzelnen Hamburger Bezirke an. Eine Beteiligung von privaten bzw. nicht staatlichen Stellen halten wir für wenig vorteilhaft, da dadurch eine weitere Parallelstruktur mit karitativem Charakter geschaffen würde. Im Sinne eines ganzheitlichen Gesundheitsansatzes und vor dem Hintergrund der häufig prekären Lebenssituation des PatientInnenkollektivs sollte die Vergabestellen eine begleitende lebensweltorientierte Sozialberatung anbieten bzw. vermitteln können. Dabei ist insbesondere auf eine Rechtsberatung Wert zu legen. Sowohl in der Anlaufstelle als auch zur Begleitung der PatientInnen während der medizinischen Behandlung ist in manchen Fällen Sprachmittlung erforderlich. Vergabekriterien Alle Nicht-EU-BürgerInnen ohne legalen Aufenthaltstatus, im Asylverfahren oder mit einer Duldung, sowie EU-BürgerInnen ohne ausreichenden Versicherungsschutz sollten Anspruch auf einen Anonymisierten Krankenschein haben. Es sollte ein möglichst barrierefreier Zugang zur medizinischen Regelversorgung ermöglicht werden. Der Anspruch könnte ähnlich wie in Frankreich über entsprechende Dokumente belegt werden (abgelaufene Visa oder Aufenthaltstitel, Pässe ohne Einreisenachweis, abgelehnte Asylanträge u.a.). Bei nicht vorhandenen Dokumenten sollte die Überprüfung der Berechtigung über ein qualitatives Interview erfolgen. Die Bedürftigkeitsprüfung könnte analog zur geltenden Praxis der Sozialämter durch eine Mittellosigkeitserklärung erfolgen. Es ist ein Kooperationsvertrag mit dem Sozialamt erforderlich, da die Anlaufstelle die Aufgaben des Sozialamtes im Auftrag des Sozialamtes wahrnimmt. Ein vermeintlicher Missbrauch durch "Medizintourismus" kann durch eine Stichtagsregelung verhindert werden.
Wie oben bereits kurz erläutert steht die Anlaufstelle aufgrund der ärztlichen Leitung unter Schweigepflicht. Die erhobenen Daten werden somit nicht weitergeleitet sondern verbleiben dauerhaft und ausschließlich bei der Vergabestelle. Bei schwerer Erkrankung/Reiseunfähigkeit sollte mit den Betroffenen die Möglichkeit einer Legalisierung besprochen werden. In diesem Sinne erfüllt die Vergabestelle auch eine „case-manager" Funktion. Sie kann für die PatientInnen Termine in Arztpraxen ausmachen bzw. für die Beschwerden spezialisierte ÄrztInnen / medizinische Einrichtungen empfehlen. Mit dem Anonymisierten Krankenschein kann der oder die Betroffene dann jeden Arzt / jede Ärztin, Praxis oder jedes Krankenhaus aufsuchen. Die Partizipierenden des Gesundheitswesens sind über den Anonymisierten Krankenschein informiert und wissen, dass eine Abrechnung der erbrachten Leistungen übers Sozialamt möglich ist, so dass die PatientInnen ohne weitere bürokratische Hindernisse Zugang zu medizinischer Regelversorgung haben. Der Krankenschein gilt für ein Quartal. Bei einer späteren Wiedervorstellung kann auf die ursprüngliche Dokumentation zurückgegriffen werden und es muss lediglich eine Aktualisierung der bestehenden Datenlage erfolgen. Wenn eine notfallmäßige Aufnahme im Krankenhaus ohne vorherige Vorstellung in der Vergabestelle erforderlich ist, wendet sich das Krankenhaus, ggf. auch rückwirkend, direkt an die Vergabestelle analog zur bisherigen Meldung an das Sozialamt.
Abrechnung
Die Abrechnung der Behandlung mit dem Anonymisierten Krankenschein wird analog zur Abrechnung der Sozialämter nach dem AsylbLG über eine zentrale Abrechnungsstelle durchgeführt. Als Abrechnungsverfahren kann wie bei dem kassenärztlichen System der Einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM) dienen. Zentral für die Funktionsfähigkeit des Anonymisierten Krankenscheins ist, dass das Abrechnungssystem möglichst einfach ist und keinen hohen Verwaltungsaufwand in Anspruch nimmt.
Auf den Einweisungsscheinen und Rechnungen stehen keine Namen, sondern anonymisierte Codes. Da die PatientInnen keinem Hamburger Bezirk zuzuordnen sind, sollte die Abrechnung über den Sozialetat des Hamburger Haushaltes erfolgen.
Kosten
Die Kostenplanung des Modellprojektes ist momentan nur bedingt möglich, da unbekannt ist, wie viele Menschen sich in Hamburg ohne Aufenthaltsstatus aufhalten und wie viele das Projekt in welchem Unfang in Anspruch nehmen würden. Damit zukünftig eine valide Kostenplanung möglich ist, ist der Anonymisierten Krankenschein zunächst als Modellprojekt zu denken. Dieses könnte auf ein Jahr angelegt werden. Um die Effizienz und Notwendigkeit des Anonymisierten Krankenscheins zu überprüfen, böte sich die wissenschaftliche Begleitung des Modells durch entsprechende ExpertInnen an.
Durch eine zeitgerechte und adäquate medizinische Versorgung können chronische Ver- läufe und daraus resultierende Notfälle vermieden werden – das spart Krankenhaus- kosten, die bereits jetzt von den Sozialämtern übernommen werden müssen.
Begleitende Öffentlichkeitsarbeit
Um einen reibungslosen Ablauf des Modellprojekts sowie ferner die spätere Implementierung des Modells in die Regelstrukturen gewährleisten zu können, ist begleitende Öffentlichkeitsarbeit unumgänglich. Ärzteschaft und PatientInnen könnten mittels Broschüren, Rundbriefen und Veranstaltungen gezielt aufgeklärt und informiert werden.
Das Modell des Anonymisierten Krankenscheins ermöglicht Menschen ohne gesicherten Aufenthaltstatus den vollen Zugang zur Regelversorgung sowie die freie Arztwahl. Insofern ist es anderen Modellen wie einem Gesundheitsfonds oder einer humanitären Sprechstunde deutlich überlegen. Ein Modellprojekt auf der Basis des Anonymisierten Krankenscheins etabliert langfristige Strukturen, hat eine klare politische Signalwirkung und trägt zu einer Diskursverschiebung im Themenfeld Migration bei.
1 Das Land Berlin hat mit der Forderung nach der bundesweiten Einführung eines anonymen Krankenscheins einen Vorstoß in diese Richtung gemacht. Vgl. von Bullion, Constanze: Der namenlose Patient, in: Süddeutsche Zeitung, 23.02.2009, unter http://www.sueddeutsche.de/politik/787/459429/text/, zuletzt aufgerufen am 01.03.2009.
3 BGBl. 1973 II S. 1569. Bereits 1961 wurde das Recht auf Gesundheit in der Europäischen Sozialcharta in Art. 11 festgeschrieben vgl. BGBl. 1964 II, 1261, sowie im Jahr 2000 erneut in Artikel 35 der Grundrechte-Charta der Europäischen Union, vgl. Amtsblatt der Europäischen Gemeinden, 2000 / C 364 / 01.
5 Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg., 2007): Frauen, Männer und Kinder ohne Papiere in Deutschland - Ihr Recht auf Gesundheit. Bericht der Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität, S. 10.
6 Bundesministerium des Inneren (2007): Illegal aufhältige Migranten in Deutschland, Daten, Rechtslage, Handlungsoptionen, S.22f. Die Bereitstellung von Heil- und Hilfsmitteln ist eingeschränkt. Zahnersatz ist weitgehend ausgenommen; vgl. Globalrichtlinie zu § 4 AsylbLG Zahnärztliche Leistungen vom 1.10.2005 (Az.: SI 2304/133.70-3), unter http://www.hamburg.de/gl-asylblg-04/126652/start.html, zuletzt aufgerufen am 01.03.2009.
8 vgl. hierzu u.a. Bühring, Petra: Menschenrechte: „Das Problem wird einfach ausgeblendet", in: Deutsches Ärzteblatt 2001, Jg. 98, Nr. 9, unter: http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?src=suche&p=&id=26206, zuletzt aufgerufen am 01.03.2009.