Nach dem Medibüro

Das Medibüro Hamburg wurde 1994 gegründet. Der gesellschaftliche Kontext zu dieser Zeit war geprägt von sich verschärfenden rassistischen Tendenzen. So kam es zu Beginn der 1990er Jahre in der wiedervereinigten Bundesrepublik zu zahlreichen rassistisch motivierten Pogromen. Auf institutioneller Ebene führte die Änderung des Asylgesetzes 1993 zur faktischen Aufhebung des Asylrechts und damit zu einer ansteigenden Illegalisierung von Menschen in Deutschland.
 
Das Medibüros versuchte damals diesen Entwicklungen durch die Organisation eines Ärztenetzwerkes und einer anonymisierten Vermittlung auf medizinischer Ebene zu begegnen. Die zunächst wöchentliche Beratung und Vermittlung in das Ärztenetzwerk war eine Form sich mit den Kämpfen der illegalisierten MigrantInnen zu solidarisieren und ein Versuch die Entrechtung sichtbar zu machen.  
 
Wie andere Gruppen auch, machte sich das Medibüro zur Aufgabe, die „Legalisierung zu fordern und die Illegalität zu organisieren“.
Während dieser Gründungszeit war das Medibüro eine Geheim-Organisation, die sich rechtlich in einem Graubereich bewegte, da juristisch unklar blieb inwiefern sich sowohl die Ärzte als auch die MittlerInnen durch ihre "Beihilfe zum illegalen Aufenthalt" strafbar machten. Durch diese Umstände entstand ein, zumindest was die hausärztliche Versorgung anging, gut funktionierendes, klandestines Parallelsystem.
 
Damit hatte das Konzept Medibüro eine andere politische Sprengkraft als heute, da es gegen gesellschaftliche „Wahrheiten“ und Rassismen wie z.B. „es gibt keine Leute ohne Papiere“ oder „das Boot ist voll“, eine widerständige – unmittelbar solidarische – Praxis setzte.
 
Vor allem durch den selbstorganisierten Widerstand der Migrierenden ist die Lebenslage illegalisierter Menschen mittlerweile in der gesellschaftlichen Wahrnehmung angekommen und Gegenstand politischer Vereinbarungen und Diskurse. Grenzen sind und bleiben flüssig. Gleichzeitig sind neue gesellschaftliche Ausschlußmechanismen dazu gekommen, die weiteren Gruppen die Teilhabe an sozialstaatlichen Errungenschaften verweigern. So sind mittlerweile neben den Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, auch viele Menschen aus den neuen EU Ländern von der regulären Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. Darüber hinaus haben Entwicklungstendenzen kapitalistischer Verwertung im Gesundheitssektor zur Folge, dass Menschen mit geringem Einkommen eine schlechtere medizinische Versorgung als Menschen mit hohem Einkommen erhalten. Die Überführung des Gros der staatlichen Gesundheitsbetriebe in private Hände hat zur Folge, das die Versorgung marginalisierter Gesellschaftsgruppen immer stärker von NGOs, Wohlfahrtsverbänden, ehrenamtlich arbeitenden Hilfseinrichtungen und privaten Dienstleistern übernommen wird, die bereitwillig um die Spenden und Staatsgelder konkurrieren.
 
Auch das Medibüro wird von staatlicher Seite als ein solcher Sozialdienstleister angesehn. Es ist mittlerweile zu einem beliebten Gesprächspartner der Parteien, der Behörden, der Wohlfahrtsverbände etc. geworden. Es ist Teil der hoch geschätzten Zivilgesellschaft und wird für seine „guten Taten“ anerkannt. Die gesellschaftlichen „Wahrheiten“ sind andere geworden, z.B. dass Menschen, „die anderen nur helfen wollen“ das Bundesverdienstkreuz verdienen und sich dementsprechend nicht der "Beihilfe zum illegalen Aufenthalt" strafbar machen. Auch wenn unsere konkrete Arbeit immer noch in unmittelbarer solidarischer Organisation von Gesundheitsleitungen besteht, wird deutlich, dass der gewandelte gesellschaftlich Kontext eine Weiterentwicklung des Konzepts Medibüro notwendig macht, wenn wir nicht einfach zu einer der vielen humanitären NGOs werden, sondern weiterhin eine widerständige Praxis entfalten wollen.